Was bedeutet "Besessenheit"?

Auszüge aus dem Buch Grundlagen und Praxis der Rückführungstherapie:

... Unter „Besessenheit“ wird im Allgemeinen ein besonderer – oft leidvoller – Seelenzustand verstanden. In diesem Zustand soll der – an sich unschuldige – Mensch von „fremden Mächten“: „bösen Geistern“, „Dämonen“ oder bösartigen Menschen aus dem Jenseits oder von irgendwelchen Gestalten verfolgt, beeinflusst, geplagt, ergriffen oder gar in Besitz genommen sein. 

Der Glaube an „Besessenheit“ kommt dem „Besessenen“ nicht selten überaus entgegen. Ist er nämlich von „Fremdwesen besessen“, so braucht er für all das, was er denkt oder tut, keine Verantwortung zu tragen: Er steht ja unter „Zwang“ und ist nicht mehr er selber, er ist eben: „besessen“.

Konfrontation und Fremdbesetzung

Beim näheren Hinschauen entpuppen sich die „fremden Mächte“ meistens allerdings als die dunklen Aspekte der eigenen Seele des „Besessenen“. Seine „Plagegeister“ stammen in der Regel aus der eigenen Vergangenheit. Es ist der Mensch selbst, der in diesen Gestalten mit sich selber und dadurch mit seinem Verhalten in früheren Inkarnationen konfrontiert wird.

Es gibt jedoch Menschen, die tatsächlich von „fremden Mächten“ bedrängt werden. Solche „fremde Mächte“ sind so gut wie immer Menschen, die zur Zeit im Jenseits weilen und zum Betreffenden auf irgendeine Weise eine engere Beziehung haben. – Sie können sich jedoch nur bei demjenigen „einschalten“, der selber dazu Anlass gibt oder Anlass gegeben hat. Denn die einzig mögliche Beeinflussung eines inkarnierten Menschen durch Jenseitige besteht darin, ihn zu enthemmen und dadurch das, was in ihm: in seiner Seele bzw. in seinem Unbewussten, vorhanden ist, durch Anregungen hervortreten zu lassen, sein Vorhaben zu „unterstützen“ oder bei seinen Handlungen die Ausführung durch „Einflüsterung“ zu lenken.

Fühlt sich jemand verfolgt, so wird er in jedem Fall von seiner eigenen Vergangenheit, genauer: von seinem schlechten Gewissen wegen der früher begangenen Verschuldungen, verfolgt. Bedrängen ihn gleichzeitig Menschen aus dem Jenseits, so sind diese entweder jene, denen er damals Böses angetan hat, oder jene, die bei seinen Unternehmungen Mittäter: seine Komplizen, waren.

Das Erscheinen von Jenseitigen im Traum, das Gefühl, von ihnen bedrängt, verfolgt zu werden, bedeutet letztlich nur den Hilferuf dieser Menschen, die auf diese Weise ihren alten Kumpanen bitten, ihnen bei der Auflösung der gemeinsamen Verschuldung behilflich zu sein.   – Derselbe Grund besteht auch für das Erscheinen der ehemaligen „Gegner“: Auch jene, denen jemand übel mitgespielt hat, haben nur leiden müssen, weil sie früher anderen dasselbe Leiden zugefügt haben. Auch die einstigen „Opfer“ kommen also, um Hilfe zu erbitten, denn wenn jemand seine eigene Schuld auflöst, erleichtert er es auch jenen, an denen er sich verschuldet hat, eigene Schuld aufzulösen.

Kumpane oder ehemalige Opfer „bedrängen“ oder „verfolgen“ also den früheren Täter nicht, doch sie können sich bei einem Menschen nur in jener Gestalt melden, die sie jetzt haben. Sie scheinen „bedrohlich“ zu sein, weil sie noch nicht „erlöst“ und wegen ihres Schuldgefühls verhüllt – evtl. depressiv – sind, so dass sie eine negative Ausstrahlung haben, die der Betreffende als „Bedrohung“ oder „Verfolgung“ empfindet. – Denn jeder, der von seinem schlechten Gewissen verfolgt wird, neigt besonders stark dazu, alles, was ihm begegnet oder an ihn herantritt, als „Bedrohung“ oder als „Verfolgung“ anzusehen. 

Fanatismus

Bei manchen Arten der Besessenheit hat der „Besessene“ nicht das Gefühl, von „Fremdpersonen“ oder von „fremden Mächten“ besessen zu sein, und zwar zu Recht. Besessen sein kann nämlich jemand auch von einer Idee, einer Vorstellung, vom Glauben, von einer Religion und von allem, wofür sich jemand über alle Maßen – womöglich blind – begeistern kann. – Jeder geht in seiner inneren Entwicklung auf der zweiten Entwicklungsstufe durch jene Phase, in welcher der Mensch vom Fanatismus beherrscht wird. 

Dabei ist es im Hinblick auf die innerseelischen Vorgänge völlig gleichgültig, wovon jemand „besessen“ wird oder was es ist, wovon er fanatisiert ist. Denn wofür sich der Mensch fanatisch hinreißen lässt, ist nur die äußere Gestalt: nur die Hülle, nicht aber der eigentliche Kern der Sache, nicht einmal die „Sache“ selbst. – Der „religiöse“ Glaube zum Beispiel besteht dann lediglich in der Verteidigung der Tradition, und es wird nicht geprüft, ob die fragliche Tradition es überhaupt wert ist, dass sie weiterhin vertreten oder auch nur beachtet wird. Denn das, wofür jemand fanatisch eintritt, ist nur der Vorwand, sich rücksichtslos zu behaupten, sich Geltung, vor allem Macht zu verschaffen und natürlich seine Aggressivität auszuleben. 

Und Macht kann jemand auch dadurch erlangen, dass er die Machthaber unterstützt, deren Doktrin: die – noch so fadenscheinige – Begründung des Machtanspruchs, bedenkenlos übernimmt und sich somit mit dem Machtsystem vorbehaltlos identifiziert. Er meint, für seine „gute Sache“ (die noch so unmenschlich sein kann) einzutreten, weil er davon fanatisiert ist. Er ist ja von dieser – religiösen, politischen, sozialen bzw. sozialistischen oder sonstigen – Idee voll ergriffen, das heißt: „besessen“, – so glaubt er zumindest. Doch der Schein trügt: Er ist nicht von irgendeiner Idee „besessen“, sondern von seiner Destruktivität, die ihn zu „Taten“ drängt. Es ist ja – wie gesagt – ganz gleichgültig, welche Idee es ist, wofür er sich dermaßen „begeistert“: Es geht nicht um die „Sache“, es geht nicht um die „Idee“, sondern es geht darum, die Aggressivität und die Machtansprüche auszuleben. 

Und weil es an sich völlig gleichgültig ist, unter welcher „Fahne“ der Fanatiker seinen „ideologisch motivierten“ Krieg führt, kann er in einer Inkarnation von dieser, in einer anderen von jener „Idee“: von dieser oder jener Religion oder politischen Ideologie oder sonstigen Vorstellung, „besessen“ sein. – Und wovon er morgen: in einer der darauf folgenden Inkarnationen „besessen“ ist, kann gerade das Gegenteil dessen sein, wofür er sich heute blind einsetzt und vielleicht sogar sein Leben opfert. Ein fanatischer Moslem beispielsweise, der heute Christen oder Juden verfolgt, Attentate gegen „Feinde Allahs“ verübt, kann morgen: in der nächsten Inkarnation, ein Jude oder Christ oder sonst ein Vertreter der vorher verfolgten Gemeinschaft sein, der dann ausgerechnet – und vehement – Mohammedaner bekämpft oder sogar „ausrotten“ will.

Triebhaftigkeit

Es gibt aber auch ganz andere Arten von „Besessenheit“, die sogar gemein- und selbstgefährdend sein können. – Es ist daher für das Verständnis der menschlichen Seele und für all jene Verhaltensweisen, die von der „Norm“: von den üblichen Vorstellungen, abweichen, äußerst wichtig zu wissen, dass der Mensch von all dem, was in den Tiefenschichten seiner Seele: im Unbewussten, lagert, „besessen“ sein kann, wenn es dazu aus irgendwelchen Gründen einen Anlass gibt. Der Mensch wird dann zu Verhaltensweisen oder Taten verleitet, die er bei „normaler Verstandeslage“ nicht ausführen würde. Er tut es also, weil er von etwas „besessen“ ist und dieses „Etwas“ ihn unter Zwang setzt, bestimmte Handlungen auszuführen.

Dieses „Etwas“ ist ein „Stück“ aus dem „Rohstoff“ der Seele. Es sind Impulse, aber auch Triebe oder generell die Triebhaftigkeit, welche die Handlungsweise des „Besessenen“ in eine bestimmte Richtung weisen. Es wird aus ihm herausgeholt, was in ihm an Negativem vorhanden ist, oder – später auf einer etwas höheren Ebene –, was davon noch nicht aufgelöst ist oder in ihm sogar noch sprungbereit lauert: Destruktivität, Sadismus, Perversion u.a. – Vieles davon stammt noch aus dem Tierreich: Es ist die Bestialität, die sowohl im Tier als auch im Menschen vorhanden sein und immer wieder hervorbrechen kann. Besonders gefährlich wird der Druck der Triebhaftigkeit dann, wenn sie lange Zeit – meistens unter Willensanstrengung und somit absichtlich – unterdrückt worden ist.

Die Triebhaftigkeit an sich ist eine natürliche Anlage der Seele, die auf den unteren Entwicklungsstufen eine Kraftquelle für die Aktivität ist. In kleinen „Portionen“ ausgelebt bzw. eingesetzt, leistet sie dem Menschen bei der Selbstverwirklichung gute Dienste: bei seiner Individualisierung und beim Auf- und Ausbau seines Selbstgefühls. Sie ermöglicht ihm ferner, seine Kräfte zu erproben und wichtige Erfahrungen zu machen. – Jeder Mensch durchläuft jedoch Phasen in seiner inneren Entwicklung, in welchen ihn die Triebkräfte – meistens mit Machtanspruch gepaart – „besessen machen“ und zu destruktiven Handlungen treiben. Und eine solche triebhafte Phase kann auch eintreten, wenn der Mensch innerlich schon etwas reifer geworden ist.

Triebhandlungen unterscheiden sich von den sonstigen Handlungen dadurch, dass sie auf kein Ziel ausgerichtet sind. Ihr einziger Zweck besteht darin, den fraglichen Trieb oder Drang auszuleben, die Seele von der Spannung, die vom Trieb erzeugt wurde, zu befreien.

Das emotionell motivierte Versprechen

Versprechen kann ein Mensch vieles. Er tut es vor allem dann, wenn er meint, er würde daraus Vorteile gewinnen.   Kinder pflegen etwas zu versprechen, was sie sogar Überwindung kostet (z.B. „brav“ zu sein), nur damit sie das Gewünschte erlangen können. Ist der Wunsch erfüllt, so ist das Versprochene – meistens – schon vergessen.

Ein Versprechen kann jedoch im Menschen lebendig bleiben und ihn solange bedrängen, bis er es einlöst. Und ein Versprechen verbleibt dann hartnäckig im Menschen, wenn er dazu emotionell: durch ein Gefühl oder Affekte, veranlasst oder sogar „gezwungen“ wurde.

Tiefe, echte Liebe einerseits, Hass und der Wunsch nach Vergeltung andererseits können den Menschen zu einem Versprechen veranlassen, über das er dann nicht hinweggleiten kann, weil die Liebe oder aber der Hass, in ihm weiterwirken und ihn zum Einlösen des Versprochenen drängen.

Die Liebe äußert sich meistens im Wunsch, frühere Verschuldungen der geliebten Person gegenüber wieder gutzumachen. Der Hass aber „schreit“ nach Vergeltung für etwas, das eine tiefe Wunde geschlagen hat. – So kann jemand, dem etwas Gutes versprochen wurde, bei der ersten Wiederbegegnung mit „Liebe“ überschüttet werden (wie auch immer die „Liebe“ in einem solchen Fall beschaffen sein mag), oder der Hass „zwingt“ den, der Rache geschworen hat, bei der erstbesten Gelegenheit eine entsprechende Tat auszuführen, wobei sich die Gelegenheit dazu auch erst viel später ergeben kann.

Ist jemand von seiner „Liebe“, genauer: von seinem Wunsch nach Wiedergutmachung, oder von seinem Hass „besessen“, so kann der Wunsch nach Liebeserweis oder nach Vergeltung in ihm – mitunter unglaublich lange, und zwar unvermindert – erhalten bleiben, bis er die Möglichkeit hat, sein Versprechen einzulösen: Liebe zu geben oder Rache zu nehmen. – Lange Zeit kann also das Versprochene im Unbewussten – unbemerkt – verharren, bis der innere Druck des Versprechens oder des Schwurs so groß wird, dass sich der Betreffende zu seiner Einlösung – dann aber mit aller Gewalt – „gezwungen“ fühlt. – Dies geschieht zum Beispiel beim Einlösen eines Racheschwurs, der in einer früheren Inkarnation geleistet wurde. Und so entstehen Verhaltensweisen oder Handlungen, die unkontrolliert: in einer Art von „Wahn“, ablaufen.

Der Racheschwur

In solchen Fällen kann es vorkommen, dass Menschen, die als „normal“ gelten, in keiner Weise Absonderlichkeiten aufweisen, also ein Leben führen wie jeder „Durchschnittsbürger“ und sogar menschenfreundlich sind, aus „heiterem Himmel“ – ohne dass in ihrem Leben etwas nur einigermaßen Schwerwiegendes geschehen wäre – eine Tat begehen, die katastrophale Folgen hat und deren Grund für die Allgemeinheit völlig schleierhaft bleibt.

Auch die Täter können nicht sagen, warum sie die Tat begingen, denn sie wissen es selber nicht. Es liegt ja in ihrem gegenwärtigen Leben überhaupt nichts vor, was ihr Verhalten verständlich machen könnte. Angaben über familiäre oder existenzielle Schwierigkeiten reichen in keinem Fall aus, um zum Beispiel eine Bluttat verständlich zu machen, da sie dem vorgeblichen „Grund“ in keiner Weise angemessen ist. So wird der Täter – falls er sich nach der Tat nicht selber umbringt (was häufig der Fall ist) – als „psychisch krank“ betrachtet und in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Dort wird das Problem in der Regel dadurch „gelöst“, dass beim Betreffenden „Schizophrenie“ diagnostiziert wird und es werden ihm starke Beruhigungsmittel verabreicht. – Die allgemeine Meinung über ihn lautet dann: Er ist – oder war zur Zeit der Bluttat – „besessen“. – Ein Beispiel dafür:

Ein Mann, Mitte vierzig, Verwaltungsbeamter, geht jeden Wochentag in der Mittagspause in das naheliegende, eher bescheidene Restaurant essen. Meistens sitzen auch Kollegen an seinem Tisch und es wird fleißig – und laut – „Stammtischpolitik“ betrieben. – Eines Mittags geschieht Ffolgendes: Eine Frau, die – wie sich später herausstellte – häufig im selben Lokal speist, geht zum Beamten, zieht ein Küchenmesser aus ihrer Handtasche, will offenbar dem Mann die Kehle durchschneiden, der weicht jedoch rechtzeitig aus und wird vom Messer am Hals – knapp neben der Schlagader – verletzt, und zwar lebensgefährlich.

Der Mann bricht am Tisch zusammen, die Frau lässt sich von den entsetzten Tischgenossen widerstandslos festnehmen, die Polizei kommt, die Frau wird verhört, sie kann aber für ihre Tat kein Motiv angeben. Vermutungen, etwa dass Erpressung im Hintergrund stehen könnte oder dass sie im Auftrag irgendeiner kriminellen oder Terrororganisation handelte, erweisen sich als unbegründet. – Da der Grund ihrer Tat rätselhaft bleibt, wird sie in eine psychiatrische Klinik eingeliefert, wo sie die Nachricht, der Mann habe das Attentat überlebt, regungslos entgegennimmt, als würde sie das Schicksal des Mannes überhaupt nicht mehr interessieren. Wie es sich herausstellt, kennt sie den Mann persönlich überhaupt nicht, nur vom Sehen her im Lokal, auch den Gesprächen der Tischgenossen hat sie nie zugehört. – Sie zeigt auch später keine Reue, sie scheint durch ihre Tat eher erleichtert, sogar befreit. Sie bleibt eine Weile in der psychiatrischen Klinik, steht unter „Beobachtung“, verhält sich ruhig, versucht sich sogar nützlich zu machen und nimmt den überlasteten Pflegerinnen da und dort Arbeit ab, dann wird sie entlassen. Sie hat keine Familie, lebt ganz allein und nimmt ihre Arbeit in der Personalverwaltung eines Warenhauses wieder auf.

Für diejenigen, die sich in Sachen „Besessenheit“ auskennen, ist es naheliegend, nach Gründen für das Attentat in der früheren Vergangenheit der Frau zu suchen. – Eine stellvertretende Rückführung ergibt dann Ffolgendes: In einem Lager üben sich römische Soldaten im Lanzenwerfen. (Bekanntlich war für die Römer die Lanze die wichtigste Wurfwaffe.) Der Hauptmann will seine Soldaten zum „besten Wurf“ anleiten, und der „beste Wurf“ ist jener, der den Gegner an der Schlagader am Hals trifft. – Der Wurf soll eingeübt werden, aber nicht an Stoffpuppen, sondern an Menschen. Dafür werden Gefangene als Zielscheibe aufgestellt. Die Gefesselten: Beute aus dem Feldzug des Hauptmanns, darunter auch Frauen, werden in eine Reihe gestellt und einer nach dem anderen mit einem Lanzenwurf verletzt oder getötet. Als ein zehnjähriger Knabe an die Reihe kommt, fleht seine Mutter den Hauptmann an, er solle den Jungen verschonen, sie stelle sich an seine Stelle, doch der Hautmann grinst sie nur an, nimmt die Lanze und trifft den Jungen mit einem sicheren Wurf an der Schlagader. Der Knabe fällt um und stirbt in den Armen der Mutter. Sie aber schwört vor Gott, sie werde es dem Hauptmann heimzahlen. Der lacht nur und lässt die Frau von einem Soldaten umbringen. 

Für den Hauptmann war die „Sache“ damit erledigt, – wenigstens für den Augenblick. – Die Frau hingegen trug ihren Hass und ihren Wunsch nach Vergeltung in ihrem Herzen und wartete während zwei Jahrtausenden, bis „ihre Stunde schlug“. – Und „ihre Stunde schlug“ in dem Augenblick, als sie das erste Mal das Speiselokal betrat und den Mann erblickte. Sie kannte ihn – wie gesagt – in diesem Erdenleben nicht, in ihrer Seele, im Unbewussten, wo das früher Geschehene archiviert ist, erkannte sie ihn hingegen sogleich: Er war der Hauptmann, der ihren Sohn damals kaltblütig umgebracht hatte.

Die späte Rache

Was hat ein Mensch davon, wenn er noch nach zwanzig Jahrhunderten seinen Racheschwur einlöst, – außer, dass er sich für das Abtragen des verursachten negativen Karmas disponiert? – Er entledigt sich zweifellos seines Hasses, der ihn – sogar während einer so langer Zeit – verkrampft hält: Er wird entspannt, ja er fühlt sich dann vielleicht „erlöst“ und kann „frei aufatmen“. – Natürlich wird ihm die Rechnung für seine „Erlösung“ – wie angedeutet – später einmal präsentiert – es sei denn, er sieht ein, dass sein Racheakt eine Verschuldung und keineswegs die „Lösung“ seines Problems bedeutet, und er bereit ist, seine Schuld durch Wiedergutmachung aufzulösen.

In all den Fällen, in welchen ein Mensch sich auf eine Vergeltung versteift, versucht ihm der „Himmel“ zu helfen, – selbstverständlich nicht bei der Durchführung seiner geplanten Rache, sondern darin, dass er den Hass in sich auflöst, und sich mit seinem Gegner versöhnt. – Und versöhnen kann sich der Mensch mit seinem Gegner nur dann, wenn er erkennt, dass sein „Gegner“ kein anderer ist als er selber. Denn selbstverständlich war er damals jenem Übel, dessen Verursacher er Rache geschworen hat, nur deswegen ausgesetzt, weil er sich dafür in einer (noch) früheren Inkarnation durch sein entsprechend übles Verhalten selber disponiert hatte. – Ausserdem „heilt die Zeit die Wunden“, – was konkret bedeutet, dass der Mensch mit der Zeit innerlich reifer, dadurch auch einsichtsfähig und somit auch bereit wird, seinen ehemals verhassten Gegner auch von einer anderen Seite her kennenzulernen und ihn nicht ausschließlich als jenes Zerrbild zu sehen, das ihm sein Hass präsentiert.

Sich näher kennenlernen und sich dadurch zu versöhnen: dazu liefert der „Himmel“ dem Menschen immer wieder Gelegenheit. – Auch der Frau wurde in den zwei Jahrtausenden öfters die Chance geboten: Sie kam mit dem ehemaligen römischen Hauptmann in manchen Inkarnationen enger zusammen, sie waren sogar einige Male verheiratet (man kann sich so eine Ehe in Alpträumen vorstellen), doch der Hass schwelte im Herzen der Frau weiter, und was der Himmel erreichte, war lediglich, dass das Ausführen des Racheaktes, zu dem die Frau – völlig unbewusst natürlich – immer wieder den Wunsch hatte, jedes Mal verhindert wurde.

Und da es sich zeigte, dass sie in dieser langen Zeit innerlich nicht reifer wurde und an ihrem Hass und Vergeltungswunsch unvermindert festhielt, so dass sie dadurch ihre innere Entwicklung abblockte, ließ der „Himmel“ sie die Vergeltung durchführen, vereitelte jedoch die Ermordung des ehemaligen Hauptmanns, nicht zuletzt auch aus dem Grunde, damit die Täterin sich kein zu grosses negatives Karma auflud. Die „Bewahrung“ ihres Schützlings „vor dem Übel“ gelang ihren Engeln also nur im Sinne einer „Schadensbegrenzung“. – Denn sie musste ihren Hass einmal voll ausleben, da sie von ihm seelisch so verkrampft war, dass sie innerlich keine Fortschritte machte und nicht einsichtsfähig wurde.

Sie stand nun – wie alle, die eine ähnliche sinnlose Tat begehen – vor einem „Scherbenhaufen“. – Da sie aber von ihrer „Besessenheit“ innerlich befreit und damit „entkrampft“ wurde, besteht die Hoffnung, sogar die Wahrscheinlichkeit, dass sie zulässt, dass die helle Seite ihrer Seele in den Vordergrund tritt und sie dadurch zur Besinnung und somit zur Einsicht gelangt.

Jeder Mensch, ganz gleich, was er getan, was er geschworen hat, kommt früher oder später zur Besinnung und hat Gelegenheit, alles, was er verbrochen hat, wieder gutzumachen. Denn die Seele – und zwar jede Seele ohne Ausnahme – wächst unaufhaltsam und jeder Mensch wird – wenn auch in winzigen Schritten – innerlich immerzu reifer.

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